Ein bisschen was zum Lesen.
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Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ Der Klang Chinas
Noch einmal klopfe ich meinen Körper von oben bis unten ab, nunmehr zum gefühlt zwanzigsten Mal. Doch auch beim einundzwanzigsten Mal blieb es verschwunden. Ich hatte tatsächlich meine Brieftasche verloren. Meine Gedanken überschlugen sich.
Schlimm wäre es gewesen, meine Brieftasche in Deutschland zu verlieren. Aber einer Katastrophe kam es gleich, dies in China zu tun. Wie sollte ich dem Taxifahrer erklären, dass wir alle Orte, die ich in den letzten drei Stunden besucht hatte, noch einmal abfahren müssten? In einem Land, in dem das Autofahren von Hupe und Lichthupe regiert zu werden schien und mich kein Chinese, trotz Mandaringrundkurs, verstand? Aber ich möchte mich nicht beschweren. Der Taxifahrer war in Ordnung. Ich hatte Schlimmeres erlebt in den letzten Wochen meines Aufenthaltes. An Bremsen ist zwar auch bei ihm nicht zu denken, doch das Ausweichen hatte er gnadenlos drauf. Und Zebrastreifen haben hier ohnehin mehr dekorativen Charakter. Mich störte es nicht. Mutter, ja Mutter würde sich sicher Gedanken machen, wenn sie vom Fahrstil meines Taxifahrers wüsste, aber so sind sie eben, Mütter. Es ist ihr Job so zu sein. Mutter macht ihren Job nicht gut, sie erledigt ihn grandios. Ich sollte mich bei ihr bedanken. Sollte ich heil durch den Verkehr Chinas kommen, das scharfe Essen überleben und auch auf dem Rückflug nicht abstürzen, dann, ja dann werde ich mich bei ihr bedanken. Auch wenn es ihr insgeheim lieber wäre, wenn ich ihr (oder sollte ich sagen mir?) eine kleine Chinesin mit Schuhgröße vierunddreißig mit nach Hause bringen würde.
In der Hand halte ich den Zettel mit der chinesischen Firmenanschrift. In einer halben Stunde das Meeting. In den meisten Meetings sitze ich und kritzle nur auf dem Papier herum. So kann ich mich besser an die Einzelheiten erinnern. Es ist nicht zum Zeitvertreib, es hilft mir! Wer immer auch Englisch zur Weltsprache machte, meiner Verachtung kann er sich sicher sein. Doch diese Meetings (ich denke an Vietnam, London, und Orte, die ich längst vergessen habe), deren gesprochene Worte ich nicht erfassen konnte, in denen ich mit meinem klugen Blick sitze, hinter meinem aufgetürmten Aktenkoffer, neben dem Netbook (das ich nie benutze), mit dem kleinen karierten Zettel (auf dem ich manchmal ein Kästchen ausmale oder einen Regenwurm zeichne), diese Meetings sind alles für die Firma. Sagt zumindest mein Boss und er muss es ja wissen. Regenwürmer zeichnen ist dabei zurzeit tatsächlich meine Spezialität, obwohl es bisher in China nicht regnete. Auch im Blindschleichenmalen bin ich seit jeher ein geübter Profi. Vielleicht sollte ich meine Malkünste ausdehnen. Ja, unter Umständen werde ich eines Tages ein begnadeter Zeichner für kleine Chinesinnen, für eine kleine Frau mit der Schuhgröße vierunddreißig. Im nächsten Meeting werde ich damit beginnen. Ich werde es üben – das mit dem Schuhezeichnen. Während ich darüber nachdachte, fiel es mir ein: Nie habe ich einen Frauenschuh gezeichnet, auch Bratsche, Oboe und Fagott habe ich nie gespielt. Weder habe ich Reitunterricht bekommen, noch bin ich zum Tennis gegangen. Und nun, in einem Alter, in dem man bereits mehr Jahre gelebt hat, als man noch vor sich hat, nun ist es zu spät. Ich werde kein neuer Goethe oder Hegel mehr, die Großen der Welt haben mich überholt. Vielleicht bin ich ein wahrer Künstler für kleine Frauenschuhe und habe es nie bemerkt! Kleine Chinesinnen! Zeichnen! Das Meeting! Meine Gedanken fokussierten sich wieder. An die Besprechung (oder den Zeichenkurs für freie Kunst, wie ich insgeheim zu sagen pflegte) war nicht zu denken. Vorher mussten Kreditkarten gesperrt, Handyverträge lahmgelegt und meine Gedanken geordnet werden. In meiner nun nicht mehr vorhandenen Brieftasche befanden sich neben den zwei privaten EC-Karten die Firmenkreditkarten, die Vielfliegermeilen, mein Personalausweis, mein Führerschein, das Rückflugticket nach Deutschland und zu allem Überfluss auch noch mein Haustürschlüssel.
So schnell würde niemand meine Haustür erreichen, dachte ich, während ich mich erneut von oben bis unten abklopfte. Auch das Taxi versuchte ich, auf den Kopf zu stellen. Fußmatten gab es keine und auch sonst wenig Gelegenheit für eine Brieftasche, um sich unsichtbar zu machen. Ich hätte auf Mutter hören sollen und den Brustbeutel wählen. Hatte ich es verloren, wurde es gestohlen? Es blieb verschwunden. Der Taxifahrer blickte unsicher in den Rückspiegel. Wie mochte er heißen? Ob er Familie hatte? Würden seine Kinder heute Abend hungern, wenn ich ihn nicht bezahlen konnte? Schnell verwarf ich den Gedanken an seine hungrige, mit offenen Mäulern wartende Großfamilie wieder und erinnerte mich an die Ein-Kind-Politik. Ich gab ihm den Hotelflyer, der nur aus Schriftzeichen bestand. Vielleicht hätte ich das Hotel besser aufmalen sollen. Doch meine Künstlerkarriere stagnierte momentan. Bis zu Häusern war ich noch nicht gekommen. Eine Rechnung gab er mir mit. Er verstand. Oder zumindest hatte er die Hoffnung, irgendwann sein Geld zu bekommen. Wie gut, dass Chinesen Europäer achten. Möglicherweise hat ihn auch die Integrität, die ich ausstrahle, beeindruckt. Ich könnte mir wohlwollend auf die Schulter klopfen. Mein Businessanzug hat ihn sicher überzeugt. Oder er wollte einfach keinen Ärger. Wer weiß das schon.
Eventuell hätte ich besser den Bus nehmen sollen. Doch beim Fahrplan hatte ich keine Chance. Zu viele Schriftzeichen, die ich noch immer nicht kannte. Gefühlte Hunderte Hieroglyphen hatte ich bereits gelernt in den letzten Monaten. Der Kurslehrer war gut und die fremde Grammatik erschloss sich mir schnell. Doch wer konnte vorhersehen, wie oft ich noch nach China käme? Und wer konnte schon die Sache mit der Brieftasche ahnen? Heute wünschte ich mir zwar, einen Intensivkurs gebucht zu haben, doch morgen würde ich vielleicht schon wieder anders darüber denken. Morgen wäre ich möglicherweise froh, der lauten Stadt den Rücken zu kehren. Ja – China ist LAUT.
Das Hotelpersonal half mir mit englischsprachigem Telefonbuch, Auskunft und gutem Zuspruch. So gut es eben geht, in einer Sprache, die weder ihre noch meine Muttersprache ist. Ich fühlte mich nackt ohne Brieftasche. Ich dachte erneut an meine Haustür. Die blaue Farbe, die langsam vom Holz abblätterte und das Wespennest, das mich die Tür nur 10 Zentimeter öffnen ließ. Sollten die Wespen doch den Eingang bewachen!
Wie viel Zeit würde mir bleiben, das Schloss zu wechseln? Einen Tag? Zwei Tage? Ich könnte nachher bei Mutter anrufen und sie den Schlüsseldienst. Wie spät ist es in Deutschland? Ich beginne zu rechnen.
Wie viel Bargeld ich mit mir herumgetragen hatte, bis zur Stunde null, bis zum Verlieren? Ich könnte es nicht einmal beziffern. Ich zähle mein Geld selten. Mehrere Hundert Dollar werden es gewesen sein, dreihundert, vierhundert? Einige Yuan und wahrscheinlich hinter dem Reißverschluss auch einige vietnamesische Dong. Was war noch in dem Fach hinter dem Reißverschluss? Das Bild von Sophia. Das einzige Bild, das ich von ihr besaß. Das einzige Bild seit elf Jahren. Ich würde kein Neues bekommen können. Es gab kein Bild mehr von Sophia. Und es würde keine Bilder mehr von ihr geben. Mein Herz blutete. Die Haustür, die Firmenkreditkarten, das Rückflugticket, das Bargeld –alles unwichtig. Ich hatte Sophia ein zweites Mal verloren.
Das Meeting lief ohne meine Anwesenheit ab. Nie zuvor hätte ich gedacht, dass sich auch ohne mich die Welt weiter drehen würde. Doch sie dreht sich – und das sogar in sehr geordneten Bahnen. Auch wenn sie sicher den klug blickenden Mann, dessen Notizzettel immer halb vom Aktenkoffer verdeckt waren, vermisst haben! Ich möchte es zumindest glauben. Ich bin nicht beliebig. Wie sagte Mutter früher immer, jeder hat seine Stärken. Meine Stärken? Klug aussehen auf Knopfdruck und Regenwürmer zeichnen. Und vielleicht bin ich bald Designer meiner eigenen Schuhkollektion. Schuhe die die Welt nicht braucht – China würde sie sicher mit Kusshand nehmen. Ich beschloss, einige Schritte zu gehen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. In China Ruhe zu suchen war alles andere als leicht. Die Musik, der Duft, die fremde Kultur, all das zog mich in seinen Bann. Ich wehrte mich nicht dagegen. Seit ich im Land war, habe ich keine Nacht mehr durchgeschlafen, immer neue Bilder. Reizüberflutungsfolter.
Bereits als ich am ersten Tag aus dem Flugzeug stieg, nahm mich der Duft gefangen. Mein Hotelzimmer zu finden war weniger leicht als gedacht. Ein kleines unscheinbares Schild wies mir dann doch noch den Weg. Hotel – wenn man es denn so nennen möchte. Ich hatte mich durch die Etagen gekämpft. In der vierten Etage endlich das Büro. Eine kleine Chinesin überreichte mir den Zimmerschlüssel. Zwei Betten, Sofa und ein Tisch. Keine Klimaanlage. Und zurzeit sind die Temperaturen in Südchina nichts anderes als tropisch. Die Firma hätte sich schon mehr ins Zeug legen können! Ich dachte an die Dusche. Ein Waschbecken mit Brause. Besser als kein Waschbecken. Und immerhin befand sich auf dem Gang eine europäische Toilette, was für ein Glück! Chinesische Toiletten, wenn man sie denn so nennen wollte, bestanden aus einer Keramikwanne mit Loch, das hätte ich unmöglich vier Wochen überstanden.
Ein Knistern in der Leitung beim R-Gespräch. Gleich nach meiner Ankunft vor drei Wochen meldete ich mich, seitdem gehört das Knacken zu meinem China. Es ist der Sound der Stadt.
„Wann kommst du wieder heim?“ Mütter!
„Vielleicht bleibe ich länger.“ Stille.
„Länger?“
„Mir gefällt die Musik Chinas.“ Ja, mir gefiel der Klang.
„Wenn du bleibst, dann bleibst du nur wegen der Nutten“, sagte mein Chef bei der Abreise grinsend. Nutte, Geisha, Chinesin mit Schuhgröße vierunddreißig, mir fehlen sie nicht. Allesamt nicht. China klingt und das ist das Einzige, was zählt.
Ich erinnere mich an den ersten Abend im Park. Menschenmassen, Musik, Tanz und Aufführungen – eine beschwingte Atmosphäre, Brot und Spiele für das Volk. In der Mitte des Parks ein kleiner See, auf dem man Boot fahren kann, wenn man Platz hat. Bisher war dort kein Platz für mich. Und erst die vielen Teehäuser! Ich bin kein sonderlicher Teeliebhaber, doch möglicherweise würde ich in China noch zum Anhänger dieses Heißgetränks. Wer weiß denn schon, was die Zeit bringt? Den ganzen Tag im Park sitzen, der Teetrinker bekommt eine Thermoskanne Wasser zum Nachschenken dazu. So ließe ich es mir gefallen. Zwischendurch laufen ein paar Männer vorbei, die einem die Ohren putzen oder dich massieren möchten. Alles sehr interessant. Trubel, Musik, die Leute, der ganze Kitsch. China versprach Zerstreuung pur. Vielleicht würde ich eines Tages sogar Hunde-Fondue essen. Es gab sicher eine Chinesin mit Schuhgröße vierunddreißig, die mich in die chinesischen Kochkünste einweisen würde. Was für ein Leben. Ich würde nie mehr an das denken müssen, was war.
Schlagartig fiel es mir wieder ein: meine Brieftasche, Sophia… Ich musste mich konzentrieren! Taxis fuhren aufeinander zu und gaben Hupkonzerte. Eine ganze Stunde lang, jeden Tag. Ich kann mir keinen besseren Abendausklang in der sechzehnten Etage des kleinen hellhörigen Zimmers mit der Nummer 1175 vorstellen – ohne meine Brieftasche, in einem fremden Land, in dessen Musik ich mich verliebt habe.
Während ich im Bett des Hotelzimmers die ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages auf mein Gesicht scheinen ließ, überlegte ich einfach weiterzuschlafen. Wie lange konnte ein Mensch schlafen? Bis übermorgen? Auf den Versuch käme es an! Gegen Mittag zwang mich meine Blase zur Toilette. Demnächst, vielleicht sogar genau in diesem Augenblick, fuhr irgendwo, gefühlt am anderen Ende der Erde, der Schlüsseldienst in meine Einfahrt. Ließ den weißen Holzzaun hinter sich und zertrat unachtsam die Primeln. Man hätte sie vorher umpflanzen sollen. Zertretene Primeln, was würden die Nachbarn denken? Menschen, deren Namen ich nicht einmal kenne. Mutter konnte die Primeln immer noch entsorgen. In einer Stunde würde vom alten Schloss keine Spur mehr sein. Vielleicht sollte ich das Haus vermieten. Wenn ich in China bliebe, könnte ich das Geld sicher gebrauchen. Oder doch lieber verkaufen? Was würde aus Mutter werden? Verkaufen war keine Option, man musste sich eine Hintertür offen halten. Immer. Aber bliebe ich in China, wäre ich dann nicht immer nur ein Zugereister? Ich würde nie ein „Chinese“ werden. Ein Visum macht keinen neuen Menschen. Unterwegs zwischen den Kulturen? Ein ewig Reisender. Doch was hatte ich zu verlieren? Selbst den Nachsendeauftrag für die Post könnte ich mir sparen. Seit einem Dreivierteljahr habe ich den Briefkasten zugeklebt. Niemand schreibt. Rechnungen, Werbung – dank Internet papierlos. Zumindest den Onlinebrötchendienst, der mir jeden Samstag und Sonntag zwei Schrippen und eine Laugenbrezel bringt, müsste ich abbestellen.
Das Hotelpersonal klopft. Ich will niemanden sehen. Niemanden außer Sophia. Beim zweiten Klopfen öffne ich zähneknirschend. Ich traue meinen Augen kaum, das Zimmermädchen übergibt mir meine Brieftasche. Die Bäckersfrau hatte es abgegeben. Das Geld fehlte. Dreihundert Dollar? Vierhundert Dollar? Was spielte es für eine Rolle. Schnell öffnete ich den Reißverschluss. Ich hatte sie wieder – Sophia.
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Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ Herr Meier schreibt
Wie die Kaffeetasse zittert in ihrer Hand. Sie hält sie genau vor ihre Augen. Ich blicke unter der Tasse zu ihr durch. Sie schlürft. Mein Schatz. Seit heute offiziell. Was ein »Ich liebe dich!« doch verändert. Gut, ich gebe zu, ich hätte mir etwas mehr gewünscht, als ihr entgeistertes »Meinst du?«. So ist sie. Ich liebe sie. Das lange Zittern ist vorbei. Die Angst der letzten Monate um ihre Reaktion weicht meinem neuen Glück. Ich muss es sofort in mein Buch niederschreiben. »Bis morgen!«, haucht sie in mein Ohr und küsst mich. Ihre Lippen sind so weich, wie ich sie mir immer vorgestellt habe.
Unser Morgen gab es nicht. Aber es gab einen BMW Isetta. Ich sehe sie auf dem Fahrrad davonfahren. Ich sehe den BMW vor meinen Augen. Unfälle passieren. Warum musste es Henriette passieren? Ihre Eltern an meiner Tür. »Man konnte nichts mehr für sie tun.« Ich glaube es nicht. Vorhin habe ich noch ihre warme Hand gespürt. Nun soll diese Wärme in Leichenkälte übergehen?
Während der Beerdigung sitze ich außerhalb und schreibe:
Irgendwann kommt wieder die Frage nach dem Warum. Die Frage weicht Vorwürfen. Hätte ich ihr meine Liebe nicht an diesem Abend gestanden … Sie war zu aufgeregt. Ich hätte sie nach Hause bringen sollen. Henriette war so eine sichere Radfahrerin. Die Vorwürfe bleiben. Sie bleiben ein Leben lang.
»So schlecht sind doch die Altersheime auch nicht mehr.«
»Was soll ich dort?«
»Was willst du hier? Ich kann mich nicht den Rest meines Lebens um dich kümmern.«
»So viel Rest ist da nicht mehr.«
Schweigen. Das war nicht nett. Mein Bruder war immer für mich da. Er wusste ja, wie ich es meine.
»Wegen Henriette?«
Mein Blick fällt auf die mit Fotos gepflasterten Wände. Ich denke an den Schlafzimmerschrank mit ihren Pullovern. Meine Sachen finden sich auf einem Stuhl. Wo sonst? Im Schrank ist jedenfalls kein Platz. Mein Bruder versucht sein Bestes: »Ich kann dir beim Aussortieren helfen.«
Ich begleite ihn zur Tür. Es gab nichts auszusortieren.
Als ich zurückschlurfe, schmerzt mein linkes Knie. Sticht, sticht, sticht. Es überdeckt den dumpfen Schmerz in meinem Herzen. Henriette. Mir fallen die Hühner ein. Mit Armen, die bei jeder Bewegung schmerzen, nehme ich die Pellkartoffeln vom Herd. Ich mische sie mit Quark. Das mögen die Gefiederten besonders. Sie stürzen sich auf ihr Futter. Henriette liebte die Hühner. Natürlich nicht diese. Sie liebte die Hühner des Jahres 1960. Ich streiche dem weißen Huhn über den Rücken. Bereitwillig hält es still. Sie mochte weiße Hühner. Ich mochte sie.
Mein Knie wird nicht mehr gesund. Ich weiß es. Was soll werden? Wer interessiert sich für einen zweiundsiebzig Jahre alten, verkrüppelten Greis? Einen Alten, der keinen Fuß vor den anderen setzen kann? Ich blicke aus dem Fenster des Krankenhauszimmers. Die Blumen meines Bruders stehen im Fenster. Ich wette, seine Frau hat sie ausgesucht, sie hat zumindest Geschmack. Ich muss weg. Mein Haus, die Hühner – vor allem das Weiße, mein Schrank mit Henriettes Pullovern, ihre kleine Geige mit der abblätternden Farbe, alles wartet auf mich. Ich denke an den Staub, der sich auf den Fotos auf der Anrichte sammelt. Henriette darf nicht einstauben. Ich springe auf. Und falle um. Vor dem Bett liegen zu bleiben, ist auch keine Lösung. Schwach richte ich mich auf, finde meinen Koffer und beginne zu packen. Im gleichen Moment steht mein Bruder in der Tür. »Das ist nicht dein Ernst!«
»Sie machen doch nichts mit mir.«
»Aber dein Knie.«
»Ich muss ins Haus.«
Seine Frau sieht mich mütterlich an.
»Ich kann für mich allein sorgen.«
Sie scheint meine Gedanken zu ahnen: »Henriette lebt nicht in Gegenständen. Henriette hat ihren Platz in deinem Herzen.«
Geschwätz. Wenigstens fahren sie mich nach Hause.
Jede Woche schreibe ich ihr meine Briefe. Sie helfen mir. Meine Zuneigung in der Kiste hinter dem Schloss. Gerne würde ich mit jemandem über sie reden. Henriette im grünen Kleid mit weißen Punkten auf ihrem Fahrrad. Niemand, der heute lebt, kann sich an Henriette erinnern. Niemand möchte etwas über diese Frau wissen. Meine Frau. Fast. Ich schaffe es nicht mehr, die Kartoffeln für die Hühner zu kochen. Das weiße Huhn wird mickriger. Um die Fotos zu entstauben, fehlt mir die Kraft. Eine Träne rinnt über meine Wange. Henriettes Andenken nicht gebührend pflegen zu können, bricht mir das Herz. Wann habe ich das letzte Mal gegessen?
Altersheim. Er hat recht. Aber wohin mit all den Dingen? Ich nehme den Bananenkarton vom Tisch. Die linke Seite ist eingerissen. Zwölf Paar Schuhe stehen im Vorbau. Alle in Größe 35. Ich wähle die Pumps, die mit dem hohen Absatz. Henriette trug sie am letzten Tag. An unserem letzten Tag. Sie wandern in die Bananenkiste. Ebenso die Schachtel mit den Briefen, Zetteln, Kladden, in Leinen gebundenen Büchern. Welches Foto von ihr nehme ich mit? Alle Alben durchsehen? Ich bekomme Angst. Die Aufgabe überfordert mich. Schnell nehme ich ein Bild von der Anrichte. Vielleicht spielt es gar keine Rolle. Es stimmt, Henriette lebt in meiner Erinnerung. Ihre Bibel mit ihren Initialen und das bestickte Taschentuch, das sie mir zu meinem neunzehnten Geburtstag schenkte, finden noch Platz. Ich möchte das weiße Huhn einpacken. Ich weiß, dass ich es nicht darf. Ich bin kein verrückter alter Mann. Nur ein verliebter, alter Mann. Ein Foto des Huhns muss genügen. Ich greife zum Telefonhörer. »Ihr könnt mich abholen.«
»Abholen?« Mein Bruder denkt, ich habe den Verstand verloren. Ich bin mehr bei Sinnen, als ich es je war. Wenn Henriette in mir weiterleben soll, muss ich weiterleben.
»In das Heim für alte Leute.«
»Meine Güte, hättest du nicht eher Bescheid geben können? Du bist doch gar nicht angemeldet«, schimpft mein Bruder, völlig überrascht über mein plötzliches Einsehen.
»Dann meldet mich eben an.«
Das Leben im Heim ist genau so schlimm, wie ich es dachte. Nein. Es ist schlimmer. Ein paar Annehmlichkeiten gibt es. Ich kann mein Essen per Kreuzauswahl bestimmen, meine Wäsche gebügelt in Empfang nehmen und das Wasser so lange laufen lassen, wie ich möchte. Pellkartoffeln für Hühner muss ich nicht mehr kochen, geschweige denn einen Hof kehren, die Post reinholen oder Staub wischen. Aber die Einsamkeit nagt an mir. Sonntags kommt mein Bruder mit seiner Frau. Manchmal bringt er seinen Enkel mit. Robin – ein toller Junge. Auch ich war einmal achtzehn. Damals lernte ich Henriette kennen. Ob er eine Henriette hat?
Die Leute im Altersheim sind furchtbar. Die Pflegerinnen haben keine Zeit. Und die Bewohner sind krank. Viele haben Demenz. Demenz? Endlich vergessen können? Schnell verscheuche ich den Gedanken. Henriette lebt in mir weiter. Und dann ist da diese Frau vor dem Mensch-Ärger-Dich- Nicht-Spiel. Jeden Tag, jeden verdammten Tag sitzt sie hier und rückt die roten Figuren über die Felder. Würfelt sie überhaupt? Ralf, der ranzige Rollirabauke, scheint meine Gedanken zu ahnen:
»Sie wartet auf ihren Mann.«
»Wo ist er?«
»Verschollen.«
»Wann?«
»In den Fünfzigern, sagen sie.«
Ich gehe vor die Tür. Der Bach ist mir nie aufgefallen. Sein Rauschen gefällt mir. Eine makellose Bank an der richtigen Stelle. Ich betaste kurz mit den Fingerspitzen das lackierte Holz. Die Farbe ist nicht frisch – eine alte Angewohnheit. Ich kann auf den Hintereingang des Heims blicken. Ich rieche den süßlichen Geruch von Tod. Das Bachrauschen kann es nicht überdecken, ich kann die Leute sterben hören.
Im Aufenthaltsraum werde ich erwartet.
»Hast du schon Freunde gefunden?« Mein Bruder nervt mich.
»Ich bin hier, um zu überleben!«
»Freunde gehören zum Leben.«
»Ich bin ohne so was zweiundsiebzig geworden.«
»Vielleicht hätte es dir gutgetan.«
Pah! Ich weiß, was mir gutgetan hätte. Doch es durfte ja nicht sein. Mein Glück war mir nicht vergönnt.
»Sie müssen sich entscheiden.«
»Huhn esse ich nicht«, sage ich, das Kreuz verweigernd.
»Wenn Sie kein Hühnerfleisch mögen, kreuzen Sie die Fischstäbchen an.«
»Sie hatten nie Hühner, oder?«
Die Praktikantin guckt verzweifelt. Sicher hat sie mit den Verwirrten genug zu tun. Die Wahl ist keine Wahl.
»Hauen die da nicht die ganzen Fischabfälle rein?«
Offensichtlich wusste sie keine Antwort. »Ich muss noch einer Dame die Fingernägel lackieren.«
»Hier?«
»Ja, natürlich.«
»Gehört das auch zu ihrem Job?«
»Mehr oder weniger.«
Mein Gewissen beginnt, sich zu regen. Ich entscheide mich für die Fischabfälle. Die Erleichterung ist ihr anzusehen. Ich hätte gerne mit ihr über Henriette geredet. Aber sie hat keine Zeit. Ich fürchte, dafür hätte ich mir die Nägel von ihr lackieren lassen müssen. Und selbst dann hätte die Zeit nicht genügt. Es gibt so viel Gutes über sie zu sagen, dass Tage und selbst Monate nicht ausreichen würden. Niemand will es hören.
Mir ist langweilig. Henriettes Foto ist abgestaubt, ihre Schuhe stehen feinsäuberlich neben meinem Bett. Das Huhn liegt auf dem Nachttisch, das Foto natürlich nur. Das Huhn ist letzte Woche gestorben, wie man mir sagte. Hühner leben nicht ewig. Im Aufenthaltsbereich sitzt die kleine Frau mit ihrem Mensch-Ärger-Dich-Nicht-Spiel. Ich sehe sie von hinten. Ihren weißen Dutt und den Hals, der sich in Falten legt. Ihre Arme sind knochig. Wie Henriette heute aussehen würde?
Ich setze mich an meinen Schreibtisch und beginne, einen Brief an Henriette zu schreiben. Die Stapel in meinem Zimmer wachsen. Schreiben ist das Einzige, was mir geblieben ist.
Immer die gleichen Gesichter. Die Alten machen mich krank. Ich fühle mich fehl am Platz. Die Praktikantin wischt den Fußboden. Ich langweile mich und will ihr helfen. Mein Knie lässt es nicht zu. Im Aufenthaltsbereich ist die Dame mit dem Dutt. Er ist sorgfältig gebunden, als ob sie ihn stundenlang vor dem Spiegel ausrichtet hätte. Ja, sie wartet. Ich setze mich ihr gegenüber. Sie beachtet mich nicht. Sie schiebt nur die roten Figuren von einem Feld zum nächsten. Tatsächlich – sie würfelt. Ich stelle die gelben Figuren auf.
Hundertfünfundsiebzig vollgeschriebene Bücher kommen zusammen, als ich das Haus meines Bruders ausräume. Mit vierundsiebzig im Altersheim gestorben. Ich bin erleichtert, dass er auf mich gehört hat. Hier hätte er nicht bleiben können. Meine Güte, so viele Bücher. Wer soll die denn alle lesen?
»Ich schreibe sie am PC ab.«
Ich verstehe Robin nicht. »Wozu?«
Robin schreibt und schreibt. Seit drei Monaten sehe und höre ich ihn kaum. Nur seine Freundin sehe ich ab und zu ins Haus huschen.
»Wir haben uns versöhnt«, zwinkert sie mir zu.
Robin blickt mich stolz von der Seite an: »Ein Verlag will die Bücher drucken. Als Fortsetzungsroman.«
»Konnte er so gut schreiben?«
Die Bücherregale der Heimatbuchhandlung sind wie leer gefegt. Der Verlag geht in die nächste Auflage. Und plötzlich möchte jeder von Henriette hören.